Interview

Über sturen Dill und die Frage: Warum gibt es Hunger?

Über sturen Dill und die Frage: Warum gibt es Hunger?

Hallo Eve, Hallo Winni, ich freue mich sehr, mich heute über euren Saatgut-Betrieb "Keimzelle" zu unterhalten! Ihr erzeugt hier in der Keimzelle in Vichel - in Brandenburg - Ökosaatgut von mehr als 400 Kulturpflanzen - Gemüse, Blumen, Kräuter, Getreide. Darunter sind viele alte und seltene Sorten. Wie fing alles an? Woher stammt die Idee zur Keimzelle?

 

Winni: Alles fing an in unserer Zeit im Bauwagen. Damals haben wir uns mit Pflanzenanbau, Bio-Komposttoilette und Pflanzenkläranlagen beschäftigt. Wir wollten Sachen ausprobieren und schauen, wie wir als Gemeinschaft zu einem unabhängigen Ort werden können. In dieser Zeit haben wir die ersten Samen genommen von einfachen Pflanzen - Tomaten zum Beispiel.


Eve: Und dann wollten wir irgendwann aufs Land. Wir wollten einfach noch mehr ausprobieren. Mit einem Konzept in der Tasche haben uns umgeschaut, welche Möglichkeiten es im Umland gibt. Und vor 19 Jahren sind wir dann hier nach Vichel in den ehemaligen Schlossgarten gezogen. Neben dem Samenbau hatten wir noch viele andere Ideen im Kopf, aber der Samenbau hat sich dann hier herauskristalisiert.


Winni: Wir haben 10 Jahre gebraucht um alles hier aufzubauen und um von der Keimzelle leben zu können.

supercraft Interview Keimzelle Eve Winni


Wie habt ihr euch das Wissen über alle Pflanzen angeeignet?

 

Eve: Wir haben uns alles Wissen über die Pflanzen selber beigebracht. Aber wir hatten beide schon einen Bezug zur Natur. Ich selbst bin als Kind im Kleingarten aufgewachsen und meine Mutter ist Gärtnerin. Winni hat dann auch viel später herausgefunden, dass seine Mutter die ganze Familie mit einem Garten und Tieren ernährt hat. Und der Samen ist ja eine wichtige Zutat. Ich erinnere mich noch, als ich Kind war und immer mein Taschengeld für teuren Samen ausgegeben habe, der dann aber im Garten nicht gekeimt ist. Das ist schon sehr frustrierend. Nach gefühlt unendlichen Versuchen eine Akelei zu ziehen, freue ich mich umso mehr, dass meine Alpen-Akeleien heute von der selben Pflanze abstammen, die ich als Kind gezogen habe.

supercraft Interview Keimzelle Betrieb

 

Wie sieht ein typischer Tag in der Keimzelle aus?


Winni: Der Tag beginnt früh um 8. Wir füttern zuerst die Tiere und schauen, wie es Ihnen geht. Und ansonsten ist kein Tag gleich. Das ist ja das Schön an unserer Arbeit. Je nach Jahreszeiten und Wetter gibt es immer etwas anderes zu tun: Beete vorbereiten, Aussäen, Gießen, Samen ernten, Samen verpacken, auf Märkte gehen, Bestellungen bearbeiten, Webseite pflegen, Pflanzenkatalog überarbeiten, Holz machen, Tiere pflegen, Schafe scheeren, Wiesen abziehen)

Abends bekommen die Pferde nochmal um 11 Uhr Heu. Das ist der letzte Handgriff.

 

supercraft Interview Keimzelle Tierfütterung

 

Eure Tiere haben alle eine wichtige Aufgabe im Öko-Kreislauf. Erzählt doch mal.


Eve: Die Pferde sind dafür da, uns schönen Mist für den Kompost zu liefern. Wir äppeln jeden Tag ab und schichten damit neuen Kompost auf. Der fertige Kompost wird dann auf die Beete aufgetragen um einen nährstoffreichen Boden zu bekommen.


Winni: Unsere Laufenten halten wir für die Schneckenregulierung. Und die Katzen sind da um die Mäuse in Schach zu halten. Die Schafe halten wir, um dem Grünland rings um die Gärten Einhalt zu bieten. Außerdem essen wir das Fleisch, denn wir schlachten auch selbst.


Eve: Nebenprodukte der kleinen Schafherde ist Wolle und Felle. Die Wolle wird zu Teppichen und Kissen weiterverarbeitet. Die Felle nutzen wir selbst oder verkaufen sie.



Welche Jahreszeit mögt ihr am meisten - und wieso?


Winni: Ich liebe den Frühling am meisten, denn dann beginnt das Gartenjahr und auf einmal platzt alles auf und man kann sich an den verschiedenen Grüntönen freuen. Und die ganzen Vögel - unsere alten Bekannten - kommen zurück! Der Kuckuck zum Beispiel oder die Nachtigall.


Eve: Winni kann den Warnruf der Nachtigall nachmachen. Das klingt wie ein Frosch und bedeutet: Achtung, Katzen!


Im Februar beginnt auch unsere Verkaufszeit. Dann schicken wir die neue Liste raus und Betriebe und Privatpersonen können mit der Anzucht von Jungpflanzen beginnen. Im Frühjahr sind wir auch auf Märkten in und um Berlin zu finden. Die Termine stehen auf unserer Webseite.


Hinweis: Die Jungpflanzenmanufaktur Berlin verkauft u.a. vorgezogene Pflanzen aus den Samen der Keimzellen. Das heisst, wer jetzt noch Beete und Kübel bepflanzen möchte, kann die Aussaat überspringen 🙂

 

supercraft Interview Keimzelle Saatgut


Welchen Rat würdet ihr jemandem geben, der zum ersten Mal Gemüse und Kräuter anbauen möchte?


Beide: Einfach ausprobieren! 


Eve: Und wichtig ist es, den Pflanzen genügend Platz zum Wurzeln anzubieten. Eigentlich sind alle Gefäße ab 5l Volumen geeignet. Außer bestimmte Tiefwurzler, die brauchen bis zu einen Meter Platz nach unten zum Wurzeln. (Hinweis: wichtig ist es auch, dass die Töpfe ein Loch zum Abfließen des Gieß- oder Regenwassers haben, denn die meisten Pflanzen mögen keine Staunässe.)


Toll für den Balkon und für Anfänger sind Stangenbohnen oder Pflücksalate. Bei Gurken, Zucchini und Kürbissen gilt zu beachten, dass diese Pflanzen einhäusig sind - d.h. sie haben an einer Pflanze männliche und weibliche Blüten und möchten sich nicht selber befruchten. Und darum braucht man immer mindestens zwei Pflanzen, um Früchte zu haben.



Was motiviert euch und wobei geht euer Herz auf?


Eve: Der Moment, wenn die Pflanzen wieder aus dem Samen rauskommen.


Winni: Es ist für mich auch jedes Jahr aufs Neue verblüffend, was aus einem Samen wird. Und dass wir jedes Jahr einen fast 1 Hektar großen Garten mit Gemüse, Kräutern und Blumen haben - nur aus ein paar Samen. Da fragt man sich immer: Warum gibt es Hunger? Wenn ich immer sehe, was aus einem Kürbissamen entsteht - so viele Früchte, die man lecker zubereiten kann und die wiederum hunderte Samen produzieren.

 

supercraft Interview Keimzelle Garten


Was ist das Besondere an eurem Saatgut?


Winni: Das Saatgut, das man im Gartencenter kaufen kann, ist kein regionales Saatgut. Es wird unter Optimalbedingungen produziert - das heisst es wächst auf den besten Böden und unter idealen klimatischen Bedingungen - um den höchst möglichen Samen-Ertrag zu erzielen. Und wenn ich dieses Saatgut dann hier in den Brandenburger Sandboden säe, kommt es nicht klar, weil es eben optimale Bedingungen gewohnt ist. 


Eve: Unser Saatgut wächst auf heimischen Böden an der freien Luft. Und ist im Prinzip so erzogen worden, mit den regionalen Bedingungen zurecht zu kommen. Samen kann lernen und sich innerhalb von einer Pflanzengeneration schon anpassen.


Ein gutes Beispiel ist die Entwicklung unserer Strohblumen-Samen. Wir haben Samen von einem befreundeten Betrieb bekommen, der aber einen völlig anderen Boden hat als wir. Im ersten Jahr sind nur ganz wenige mickrige Blumen gekommen, auch nur in wenigen Farben. Die Samen dieser Blumen haben wir im nächsten Jahr wieder gesät und schon hatten wir ein völlig anderes Ergebnis: kräftige Pflanzen in vielen Unterschiedlichen Farbnuancen. Der Samen können also in nur einer Generation lernen, mit unseren Bedingungen klarzukommen.


Dieses Prinzip wenden wir bei all unseren Pflanzen an. 

 

supercraft Interview Keimzelle Saatgut


Gibt es einen Traum, den ihr noch verwirklichen wollt?


Winni: Eigentlich haben wir alles erreicht, wovon wir geträumt haben. Wir haben unsere Idee der Keimzelle so umgesetzt, dass wir davon leben können. Schön wäre es, wenn wir jemanden finden, der unsere Arbeit übernimmt und den Betrieb weiterführt.



Wenn ihr nochmal 20 wärt, würdet ihr den gleichen Weg nochmal einschlagen und käme für euch auch eine Karriere im Büro in Frage?


Beide: NEIN! (lachen)


Winni: Nein, wir lieben unsere Arbeit und für eine Karriere im Büro sind wir nicht gemacht. 


Eve: Wir würden den gleichen Weg nochmal einschlagen, aber mit kleinen Veränderungen. Anstatt Pferden würden wir wahrscheinlich Kühe halten. Aber im Großen und Ganzen ist das unser Weg.


Winni: Ich würde nochmal in eine Art Entwicklungshilfe gehen. Also das, was wir hier machen, nicht für das eigentlich gesättigte Deutschland. Sondern lieber in einem Land, wo unsere Arbeit viel mehr nötig ist.


Eve: Ja, wir wollten am Anfang nach Brasilien, es ist dann aber doch Brandenburg geworden. (lacht.)


Wir hatten Kollegen aus Syrien bzw. dem Libanon da, die da vor Ort auch eine kleine Samenbank aufbauen. Und auch da entfernen sich die Menschen immer mehr von der Natur und haben es verlernt mit dem eigenen Saatgut zu arbeiten. Und dann kommt gentechnisch verändertes Saatgut auf den Markt, das sich nicht vermehren lässt und neue Abhängigkeiten entstehen lässt. Und so wird Stück für Stück die Landwirtschaft übernommen und abhängig gemacht.



Habt ihr eine Lieblingspflanze?


Winni: Fleisch (lacht) Und Kartoffeln sind auch eine leckere Sache. Und wir bauen 100m Knoblauch an. Und wenn die Tomaten reif sind, essen wir jeden Tag Tomaten mit regionalem Büffelmozzarella.


Eve: Ich mag alle Pflanzen gerne. Nur der Dill nervt total rum. Der will auch nicht lernen. Anderen Pflanzen kann man etwas beibringen, aber der Dill ist stur. 


Am 8. und 9. Juni finden die Tage des offenes Hofes statt. Auf was können sich denn die Besucher und Besucherinnen freuen?


Wir freuen uns über interessierte BesucherInnen. Man kann unser Saatgut kaufen und unsere Gärten anschauen. Auf Anfrage sind auch immer Führungen möglich.



Wie kann man euer Saatgut bestellen?


Unser komplettes Angebot ist online zu entdecken. Gerne dann einfach anrufen oder eine Email schreiben mit den gewünschten Samen und wir machen eine Bestellung mit Rechnung fertig.


Es gibt auch einige Verkaufsstellen in Berlin und im Umland. Die Adressen und unsere Kontaktdaten findet man auf unserer Webseite.

 

supercraft Interview Keimzelle Saatgut Bestellung



Ich bedanke mich für den schönen Vormittag bei euch in der Keimzelle! Eve und Winni haben mich noch zum Frühstück eingeladen und die leckersten Dinge aus der Region aufgetischt: ein gekochtes Frühstücksei, knuspriges Brot, Butter, Salami, geräucherte Forelle und einen köstlichen eingelegten Fetakäse.


Ich würde am liebsten noch länger bleiben und gleich mithelfen. Vier Tomatenpflanzen dürfen sich auf mein Stadtbeet in Berlin freuen und für ein Schafsfell habe ich mich auch angemeldet. Auf jeden Fall werde ich im Sommer wiederkommen und mir den Garten anschauen, wenn alles in voller Blüte steht.

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