Das Zipfelhaus lädt in eine Wunderwelt aus Blütenminiaturen ein. Aus kleinsten, gepressten Blüten und Moosen entstehen seit 82 Jahren in Handarbeit fantasievolle Motive, die wohl einmalig auf der Welt sind. Heute bin ich zu Besuch bei Christiane Schlüssel, Inhaberin des Zipfelhauses im Erzgebirge, Sachsen.
Einmalig ist auch die Macherin der zierlichen Blütenbilder, die auf hochwertigem Büttenpapier gefertigt werden. Christiane Schlüssel, 87 Jahre jung, leitet das Zipfelhaus, wie sie ihre Blütenbilderwerkstatt nennt, in Eigenregie. Als Ein-Frau-Unternehmen ist Frau Schlüssel für jeden Handgriff selbst zuständig.
Wie ihr das gelingt, was sie motiviert und was sie sich wünscht, verrät sie uns heute im Interview.
Frau Schlüssel, wie entstand die Idee der Blütenbilder und wie nahm die Geschichte Ihres Geschäftes ihren Lauf?
___STEADY_PAYWALL___
1941 fiel meiner Mama (Hildegard Vogel) in einem Dresdner Museum ein Brief ins Auge, der eine kleine Vignette aus gepressten Blüten hatte. Das Motiv, wahrscheinlich aus der Biedermeierzeit, hat sie so entzückt, dass sie sofort ausprobieren wollte, etwas Ähnliches selbst zu machen.
In der Oberlausitz, wo damals die Großeltern meiner Mutter lebten, haben ich und meine Mutter die ersten Blüten von den Wiesen gepflückt und später in unserer Ferienwohnung gepresst. Ich war damals 4 oder 5 Jahre alt und kann mich noch daran erinnern, dass die Kommode in der Ferienwohnung immer gewackelt hat, da meine Mutter sie als Presse benutzte. Eine richtige Presse, so wie ich sie heute benutze, hatten wir damals natürlich noch nicht.
Zuerst machte meine Mutter kleine Grußkarten nur für sich selbst. Aber schon bald sprachen sich die Produkte herum und eines Tages standen zwei Damen aus Stolberg bei uns vor der Tür in Auerbach und wollten die Karten für ihr Geschäft einkaufen. Über den Preis wurde man schnell einig und los ging es.
Das Geschäft - ein Buch- und Kunstladen - existiert bis heute und ist bis heute Kunde bei mir.
Was waren die nächsten Schritte?
Ab 1945 wurden Arbeitskräfte frei und meine Mutter nahm sich eine Freundin mit ins Geschäft. Der Beruf als Blumenbildgestalterin war geboren.
Aber der Platz reichte in unserer Wohnung hinten und vorne nicht. Als Schulkind wusste ich nie, wo ich meine Hausarbeiten machen sollte, weil immer alle Tische und Böden belegt waren (schmunzelt). Also entschied meine Mutter zu bauen.
1953 war der erste Teil des Hauses fertig - des Zipfelhauses, welches als Werkstatt diente. Bis 1957 war das komplette Haus fertig und beherbergte das Geschäft meiner Mutter, das zu dieser Zeit bis zu 40 MitarbeiterInnen hatte. Viele davon arbeiteten in Heimarbeit oder waren Saisonkräfte.
Bis zur Wende beschäftigte das Zipfelhaus 35 MitarbeiterInnen. Fast alle Produkte gingen (als Bestandteil der sozialistischen Exportwirtschaft) ins Ausland nach Japan, Skandinavien, USA.
1990 haben wir zum Glück unser Geschäft zurückbekommen. Aber natürlich mussten wir unsere Kunden nach der Wende komplett neu aufbauen. Ich war immer auf der Autobahn zu einer neuen Kunsthandwerksmesse in München, Mannheim, Köln, Hannover, Hamburg, …
Was waren besondere Momente Ihrer Karriere?
Meine Höhepunkte waren zwei Einladungen nach Japan, um meine Arbeit vorzustellen, Workshops zu geben und auch zu verkaufen. Die Japaner haben eine eigene Kunst der Blumenbildgestaltung. Ganz anders als meine, aber auch wunderschön.
Mein Traum als junge Frau in der ehemaligen DDR war immer, mal eine Weltreise zu machen. Und mit meinen Reisen nach Japan wurde dieser Traum erfüllt.
Wenn Sie nochmal jung wären, welchen Beruf würden Sie ergreifen?
(Wie aus der Pistole geschossen) Den gleichen Beruf nochmal!
Ich würde nichts anders machen. Es ist der schönste Beruf, den es gibt. Es gibt so viel zu tun. Und man hat jeden Tag Kontakt zu Blumen. Das ist einfach nur schön. Man ist von so viel Schönheit umgeben. Und man lernt den Umgang mit der Natur.
Was mich allerdings sehr ärgert, dass es immer weniger Blumen draußen auf den Wiesen, Feldern und Wegrändern gibt. Früher hat hier um uns herum alles geblüht und die Insekten und Vögel haben sich pudelwohl gefühlt. Es ist mittlerweile so viel zubetoniert, jeder kleine Fleck Natur wird in Schach gehalten.
Ich habe eine sehr innige Beziehung zur Natur. Als Kind wollte ich immer Zoodirektorin werden. (schmunzelt)
Kommen wir in die Zukunft. Wie sieht heute ein perfekter Tag für Sie aus?
Eigentlich ein alltäglicher Tag. Ich stehe 5.15 Uhr auf und trinke eine Tasse Kaffee. Danach gieße ich Blumen und gehe in meine Werkstatt und mache die ersten Blütenkarten - und höre dabei Radio.
Um 7 Uhr wird gefrühstückt. Mein Dackel Purzel freut sich. Danach schaue ich im Internet die Bestellungen durch.
Montags und mittwochs fahre ich mit dem Auto zur Post und zum Einkaufen. Bis zum Mittag werden dann weitere Bestellungen fertiggemacht.
Danach Mittagessen und Mittagsschläfchen.
Ab 14 Uhr kommen meistens Kunden vorbei. 17.15 Uhr bekommt Purzel Futter und danach zieht erstmal Ruhe ein. Gegen 19 Uhr mache ich dann noch schnell die Buchhaltung. Die macht sich ja auch nicht von alleine.
Zum Abend lese ich mit Begeisterung einen Krimi.
Welcher Moment ist der Schönste am Tag für Sie?
Am liebsten habe ich den Moment, bevor ich zu Bett gehe. Dann schreibe ich mir nochmal alles auf, was am Tag passiert ist und freue mich über kleine oder große Erfolge.
Außerdem liebe ich den Sommer, wenn ich Blüten sammeln und pressen darf. Leider bin ich nicht mehr so mobil, so dass das Sammeln jetzt oft jemand anderes für mich macht. Aber die Arbeit in und mit der Natur ist der schönste Teil.
Sie haben ja schon erzählt, dass Ihre Mutter zu Beginn alle Blüten von Wiesen gepflückt hat. Mit der Vielzahl an unterschiedlichen Motiven und der hohen Nachfrage, war ein Zurückgreifen auf Wildblüten sicherlich bald nicht mehr machbar. Wie haben Sie diese Herausforderung gelöst?
Gleich nach dem Krieg hat meine Mutter Samen aus Erfurt bestellt und dann haben wir in unserem Schrebergarten losgelegt. Mein Großvater kam aus Dresden und hat uns gezeigt, wie es geht. Und später hatten wir dann einen Gärtner, der sich um die Pflanzen gekümmert hat. Auch ein Gewächshaus war da, in dem die Pflanzen vorgezogen wurden.
Zur Pflanzzeit haben dann alle mitgemacht, auch unsere Bildnerinnen. Das war eine große logistische Aufgabe, denn die vielen unterschiedlichen Pflanzen mussten ja passend an die richtigen Stellen im Garten ausgepflanzt werden. Die Koordination habe ich verantwortet.
Dann waren Sie ja wie eine Zoodirektorin, nur mit Blumen.
Ja, das stimmt! (lacht) Und außerdem habe ich nun auch meinen Zoo in meinen Büchern erschaffen, mit all meinen Blumentieren. Also, was will ich mehr!
Und selbstverständlich hat der Löwe sein Maul aus Löwenmaul und seine Zähne aus Löwenzahn bekommen.
Welche Eigenschaften muss man haben, um solch ein Geschäft über eine so lange Zeit führen zu können und zu erhalten?
Die wichtigsten Zutaten sind Leidenschaft, Fantasie und Kreativität. Aber auch eine gehörige Prise kaufmännisches Wissen und Organisationstalent gehören dazu. Und man kann nicht einfach in den Tag hinein leben. Wenn eine bestimmte Blumen heute blüht, muss sie auch heute gepflückt werden. Das kann ich nicht auf morgen verschieben.
An welche große Herausforderung denken Sie gerne zurück?
Der Verlag, der meine Bücher zu Anfang veröffentlicht hatte, traf die Entscheidung, in Zukunft nur noch Kochbücher herauszubringen. Mit dieser Entscheidung hatte ich auf einmal keinen Verlag mehr. So konnte es ja nicht weitergehen.
Also habe ich mit dem Verlag verhandelt, meine Rechte zu 100% zurückbekommen und mir eine gute Druckerei hier bei mir in der Region gesucht. Jetzt verlege ich meine Bücher selbst und habe mit der Druckerei Verbündete gefunden, die meine Bücher auch weiterhin drucken und verkaufen, wenn ich mal nicht mehr da bin.
Welches Verhältnis haben Sie zu Ihren Händen?
Ich ärgere mich immer, wenn mir ein Fingernagel abbricht. Denn die brauche ich ganz oft während meiner Arbeit. Ansonsten freue ich mich, dass mir meine Hände immer noch nach so vielen Jahren einen guten Dienst erweisen. Ohne sie könnte ich meine Arbeit nicht machen. Jeder Handgriff macht mir so viel Freude.
Ich bedanke mich ganz herzlich bei Frau Schlüssel für den wundervollen Nachmittag und die vielen persönlichen Einblicke. Frau Schlüssel ist für mich der lebende Beweis dafür, dass der Weg zu einem kreativen, interessanten und spannenden Leben von unserem Kopf, über unser Herz, zu unseren Händen und zurück führt - ohne Abkürzung. Frau Schlüssel hat definitiv den Schlüssel zu ihrer supercraft gefunden!
Das Interview führte Sophie Pester am 23. Oktober 2023 in Auerbach, Sachsen.
© Copyright Fotos: Sophie Pester & aus dem Buch "Ich wollt', ich fänd im Garten drei Rosen auf einem Zweig"
Bestellungen werden von Frau Schlüssel telefonisch, als Brief, im Onlineshop oder bei einem persönlichen Besuch entgegengenommen. Alle Informationen unter: www.zipfelhaus.de